Torsten Flüh Licht - Schrift - Bild
Zur Medialität der Malerei von Eugenia Gortchakova

Malerische Produktion
Es gibt im Film-Portrait „zeit = anfang & ende“ von Wolfgang Wortmann eine kurze Sequenz, in der Eugenia Gortchakova malend zu sehen ist. Die Sequenz lässt sich für mich zur Eröffnung auf zwei Weisen auffächern. Einerseits geht es um ein Photo von Alexander Rodchenko, das er von seiner Mutter gemacht hat. Es ist mit dem Titel „Die Mutter lesend“ versehen worden. Andererseits geht es um jenes rätselhafte Genre des Films, das sich ein Portrait nennt und in dessen Rahmen verschiedentlich Maler und ihre Malweise gefi lmt worden ist. Insbesondere erinnere ich mich an „Le mystère Picasso“, den Henri Georges CIouzot 1956 gedreht hat. Darin geht es um das Geheimnis der malerischen Produktion.
Geste des Lesens/Schreibens
Zunächst also zu Rodchenkos lesender Mutter. Rod chenko selbst ist engagiert als Medientheoretiker, insbe sondere zur Malerei, Plakatkunst und Fotografie hervor getreten. Licht, Schrift und Bild waren für ihn keine großen Unbekannten, vielmehr suchte er ihnen in Briefwechseln und Artikeln habhaft zu werden. Blickwinkel spielen in sei nen Überlegungen eine große Rolle. Doch das Geheimnis jenes Fotos der lesenden Mutter spielt sich am Rand der theoretischen Überlegungen ab. Es ist der Vorgang des Lesens selbst, den die Mutter versieht. Über eine Zeitung gebeugt hält die Mutter in der Rechten eine Brille vor ihre Augen, der linke Arm ist leicht aufgestützt und die Hand aufgefaltet. – Was liest die Mutter? – Wir wissen es nicht. In einer kurzen Filmsequenz von Wolfgang Wortmann sitzt nun Eugenia Gortchakova an einem Esstisch, möchte ich sagen. Über die Tischplatte ist eine Leinwand ausgebrei tet, die über die Tischkanten hinausreicht und herabfällt. Die Künstlerin malt konzentriert und mit einer meditativen Ruhe einzelne Striche, was zumindest eine sehr zurück-haltende Geste des Malens genannt werden darf. Ihre linke Hand liegt mit dem Handrücken auf der Leinwand – und ist leicht aufgefaltet. – Für mich kommt es dadurch zu einem Zusammentreffen zweier Gesten, die miteinan der korrespondieren. Die Mutter lesend und die Malerin malend – Was malt Gortchakova? – Wir sehen es nicht. Nur ein Ausschnitt, eine Sequenz von Strichen, die noch kein Bild geben. – Malt sie oder schreibt sie gar? Wir wis sen es nicht. Wiederholt hat Gortchakova den Bogen vom Malen zum Schreiben geschlagen. Hat das Bild – oft Klassiker der Malerei, Photographie und Films – in minutiöse Strichfol gen aufgelöst und weiter geschrieben. „Air: Elements“ ist vertikal ins Bild eingetragen. Ein Zug, der die ikonographi sche Kraft des Bildes freisetzt und auf anderes verweist. Es löst das Bild aus seinem Rahmen und bereichert es. So wird die Arbeit zu einer Hommage an Marilyn Monroe und Billy Wilder, ohne dass Gortchakova es so nennen würde. Doch nicht nur das. Vielmehr ist „Air: Elements“ exemp larisch für Gortchakovas Bildverfahren. Ihr Malen-Schrei ben verleiht dem Bild ein Flirren. Es lässt sich nie ganz deutlich sehen. Es erreicht keine „volle“ Präsenz, vielmehr wird durch das Malen-Schreiben an die Abwesenheit des Bildes erinnert. Man möchte sagen: der Prozess des Erinnerns wird Bild. Die Bilder erhalten eine eigene Dynamik.
Recall
Ein Recall kann im Englischen einfach ein telefonischer Rückruf sein – und das passt für Gortchakovas Arbeiten. Sie ruft Bilder, Ikonen an und lauscht, was und wie sie antworten. Dadurch entsteht eine Ikonographie, was etwas ganz Anderes ist als eine Ikonologie. Die Ikonologie schreibt das Bild fest. Gortchakovas Ikonographie schreibt das Bild. Sie transformiert es. Die Transformationen finden bei ihr auf bildlicher wie sprachlicher Ebene statt. Von der Erotik-Ikone zum elementar Flüchtigen der Luft ist es nur ein kleiner Dreh. Doch eben ein ganz entscheidender. Was hat die Erotik-Ikone alles verdeckt, wenn „Air: Elements“ sie so entschieden anders zu zeigen vermag? Die meditative Geste der aufgefalteten Hand im Malprozess macht als Antwort auf die Frage Sinn. Denn soviel vermag uns die Geste aus dem Film nun zu verstehen geben, dass nämlich Gortchakovas Arbeiten komplexe Erinnerungsprozesse wie Erinnerungsproduktionen sind.
Spektren
Häufig gibt es in Gortchakovas Bild-Kompositionen die rätselhafte Struktur eines Kreises. Er erinnert zugleich an das Licht und an die Zeit. Lichte Uhren ohne Zeiger und Zifferblatt, aus denen die Erinnerungsbilder und -texte auftauchen. Die magischen Erinnerungs-Uhren sind eine Art Monde. Wobei Monde französisch und deutsch gelesen werden darf: Welten und Monde. Nicht einfach Quellen, vielmehr Reflektoren des Lichts, dessen Ursprung verborgen bleibt. Gortchakovas Spektren zerlegen das Licht in unterschiedliche Farbwerte. Aus den Spektren kommen Bilder und Texte. Auf diese Weise transformiert Gortchakova Bilder und beispielsweise Tagebucheintragungen, Aphorismen, in das Medium Malerei. Gortchakova malt nicht zuletzt seriell. Das Serielle ist selbst ein Moment der Schrift. Wie wir in die spektralen Strudel aus Licht, Schrift und Bild mit den Arbeiten von Gortchakova hinein geraten ins Erinnern, Erzählen, Unterbrechen, Neu-Ansetzen, Wiederholen, Erraten, kommt das Bild immer wieder anders. Gortchakovas Bilderwelt lassen sich nicht anhalten. Nicht nur aus der Ferne erinnern Gortchakovas Bilder dabei an russisch-orthodoxe Ikonen.
Geheimnis des Malens
Henri-Georges Clouzot hat sich 1956 des Geheimnisses des Malens und des Malers in seinem Picasso-Portrait angenommen. Trickreich ging Clouzot soweit, dass er Picasso als Maler aus dem Bild nahm und allein die malerische Genesis eines Bildes durch Farbauftrag zeigte. Er schaute Picasso nicht nur über die sprichwörtliche Schulter, um das Geheimnis des Malens zu ergründen. Vielmehr verfolgte er die Geste des Malens selbst mit filmischen Mitteln, ließ sie Film werden. Die Geste des Malens hat bei Picasso etwas Kämpferisches. Etwas absolut Kontrolliertes, Konzentriertes im chaotisch Zufälligen. Obwohl wir Zeuge der Bildwerdung sind, bleibt das Malen Mysterium. Woher es kommt, bleibt uns unerklärlich.
Wie anders dagegen die zurückgenommene Geste des Malens bei Gortchakova. Auch sie sehr kontrolliert, als ließe sich das Malen berechnen. In gewisser Weise sind Gortchakovas Bilder durchaus berechenbar. Sie arbeitet gar mit einem Lineal. Ihre Bilder ließen sich auf den einzelnen Strich, Pinselstrich genau, auf (s)ein Mal berechnen, verdaten. Haben wir damit das Geheimnis des Malens der Gortchakova nicht gelüftet?
Zwischen der großen Geste des Malens eines Picasso und der zurückhaltenden der Gortchakova liegt mehr Geheimnisvolles, als die Filme uns zeigen. Gortchakovas Malen bewegt sich an einer medialen Grenze zwischen Malen und Schreiben. Sie spricht oft von dem Schrift-Charakter ihrer Bilder, ohne uns alles über ihr Malen-Schreiben oder Schreiben-Malen verraten oder sagen zu können.
Licht-Schrift
Licht-Schrift, das erinnert an das Medium Photo-Graphie. Doch Gortchakovas Arbeiten sind keine Photos. Allerdings, wenn man schreibt und denkt und sagt, dass sie keine Photos sind, dann sind sie zu einem Gutteil doch Photo-Graphien. Zwar lässt sich sagen, dass es keine Photos sind, weil sie als Arbeiten in Acryl auf Leinwand entstanden. Doch die Malerin arbeitet oft mit Photos, mit photo-graphischem Material. Erinnerungs-Photos: Photos, die Erinnerung, Denken, Geschichten freisetzen. Die Photos entfalten eine eigene Schrift. Die Schrift und das Schriftliche gehen über die Schrift- und Textelemente, wie sie bei Gortchakova immer wieder bis hin zu reinen Schrift-Bildern auftauchen, hinaus. In der Ausstellung „Recall“ taucht ein recht prominentes Photo auf, das schon früher bei Gortchakova zu sehen war. Ein Filmstill aus Billy Wilders „Das verflixte siebente Jahr“ von 1955. Marilyn Monroe steht an einem heißen New Yorker Hochsommertag über dem Belüftungsgitter der Subway. Der Luftzug eines unter ihr fahrenden Zuges wirbelt den Chiffonrock hoch. Eine Ikone der Filmgeschichte. Ein Mythos der Moderne. Bestandteil der Bildmaschinerie des 20. Jahrhunderts. Gortchakova hat diesen Mythos wiederholt bearbeitet. Bei Gortchakova heißt das schlicht, aber eindrücklich für diesmal „Air: Elements“.

Torsten Flüh speaks about the character of Gortchakova’s pictures, which are painted in acrylic, but she often uses photos as well. Writing, photographing and painting are integrated in these works. In “Recall” a very prominent photo appears. It shows Marilyn Monroe above a subway-shaft, an icon of film-history. Gortchakova has worked with this myth, but her title is very down-to-earth. It is written vertically into the picture, which resolves the picture from the frames and makes it a hommage to Marilyn Monroe and Billy Wilder. And more: This is an example of Gortchakova’s method, to combine writing and painting which gives the picture a shimmer.
The next chapter is occupied with the project “Recall”. This word means an answer of a call and this happens in Gortchakova’s paintings. She calls icons, pictures and listens to their answers.
Gortchakova’s iconography writes the picture and transforms it in a pictorial and language way. From the erotic icon to the elementary fleeting it is only a step, but a very important one.
In the last chapter Torsten Flüh speaks of the circle and the spectrum in Gortchakova’s works. They remind of time and light. Gortchakova’s spectrums disassemble the light in different colours. Fr om the ranges pictures and texts come. This is her transformation.
Gortchakova paints serially which is already a moment of writing.
As we get into the whirlpool of light, writing and painting in the works of Gortchakova we come to remembrance, interruptions, new beginning, repeating, guessing and the picture is always different. Gortchakova’s world of pictures is not to stop. Not only from the distance the works remind of Russian Orthodox icons.