Rainer Beßling
eugenia

Ich kann mich noch gut an meine erste Begegnung mit Eugenia Gortchakova erinnern. Wir waren im Oldenburger Stadtmuseum verabredet, wo eine Ausstellung mit Arbeiten der Künstlerin eröffnet werden sollte. Eugenia kam gerade vom Schwimmen. Sie erklärte mir, dass sie täglich für eine Stunde ins Schwimmbad gehe, weil sie dies als Ausgleich zu ihrer Kunst brauche. Schon das fand ich äußerst diszipliniert. Allerdings wusste ich zu dem Zeitpunkt nicht, welch Art die künstlerische Tätigkeit ist, die solch regelmäßigen Ausgleichs bedarf. Wir gingen dann durch die Ausstellung, in der eine ganze Wand mit jeweils zweiteiligen Tafelbildern gefüllt war. Daneben waren Objekte zu sehen, meist stelenartige, die mit der gleichen feingliedrigen Malstruktur gefasst waren wie die Bilder. Ich spüre noch die Atmosphäre, die das profane Museum durch die Ausstellungsstücke angenommen hatte: ein Raum, in dem die Zeit stillzustehen schien und der doch innerlich pulsierte. Der Grund für diese Wirkung erschließt sich, wenn man näher an die Exponate heranrückt.
Die strengen Liniengefüge der Bilder sind jeweils aus einzelnen Querstrichen aufgebaut, farbig binär gesetzt, durch eher monochromatische Stufung äußerlich beruhigt. Im oberen Teil der Diptychen fügen sich die kleinen Teilchen zu einem Kreis, einem rotierenden Kranz, dessen Strahlen sich über das Bild hinaus auszudehnen scheinen. In der unteren Tafel sind die Stichformationen vertikal geschichtet. Die Polarität der Großformen wird unmittelbar sinnfällig. Zugleich ist dem Betrachter bewusst, dass sie sich aus den gleichen Elementen zusammensetzen. Worum geht es hier? Man nimmt es schon intuitiv als elementare Thematik wahr, die Titel und manche in die Bilder eingelassene Wörter und Sätze weisen näher den Weg: “Ewigkeit ist Langeweile“, „Neues ist noch nicht gewesen, was nicht gewesen ist, ist nicht wesentlich“, “Never stop starting“, „Beginning is secret“.
„Zeit“ ist das Thema von Eugenia Gortchakova, wobei der Begriff „Thema“ fast zu wenig ist. So wie die Zeit unser Dasein definiert, strukturiert Zeit die künstlerische Arbeit. Sie ist Taktgeber und Referenzpunkt für ihre Formlösungen, letztlich Urgrund ihres künstlerischen Tuns. In den Diptychen stellt Eugenia Gortchakova zwei zentrale Zeitbegriffe einander gegenüber: zum einen den Zeitkreis, die scheinbar ewige Wiederkehr, wie sie sich etwa in den Jahreszeiten oder den Planetenbewegungen darstellt. Zum anderen den Zeitfluss, die lineare Bewegung mit Anfang und Ende, Wachstum und Verfall. In ihren zweiteiligen Bildern, die in Format und Aufbau nicht zufällig an einen Körper erinnern, in dem ein kosmologisches Kreislaufprinzip spirituelle Höhenlage einnimmt und das Schicksal der Materie eher bodennäher verortet ist, sind beide Teile eng miteinander verwoben. Die Polarität ist ein Aufbauprinzip in den Mikrostrukturen der Bilder wie auch im Bildganzen Kompositions- und geistiges Konzept. Nicht zuletzt stellt sich Eugenia Gortchakova mit ihrem Thema einer traditionell beträchtlichen Herausforderung: Wie lässt sich das nicht greifbare, zwischen Subjektivität und Objektivität vagabundierende Phänomen Zeit räumlich und flächig fixieren? Auch diesen Kontrapunkt hat sie in ihren Bildern eingewoben: Aus den scheinbar mechanisch in schlichtem Wechsel geschichteten Strichen, aus der Statik der Struktur entbindet sie eine innerlich vibrierende Dynamik. Diese trägt den Blick und das Denken durch die Versenkung in die gesetzhafte Struktur weiter. Sie öffnet Räume, greift durch Konzentration aus. So wie die Künstlerin mit jedem Strich einen Augenblick ihres Lebens protokolliert – und wir protokollieren etwas nur aus dem Bewusstsein seiner Vergänglichkeit heraus –, so fügt sie diese Momentaufnahmen, in denen sich ihr individuelles Dasein in ihrem wertvollstem Gut spiegelt, zu einem Ganzen. An diesem Ganzen schreibt sie unentwegt fort, in der Ahnung einer Harmonie im Wissen darum, sich der Entschlüsselung des Zusammenklangs allenfalls nähern zu können, dabei aber entschlossen, den streng formierten Rhythmus des eigenen Lebens in den Dienst der Bewusstseinssteigerung zu stellen.
Ich kann mich bestens erinnern, mit welchen Gedanken und Empfindungen ich damals nach meiner ersten Begegnung mit Eugenia Gortchakova wieder zurückgefahren bin. Ich hatte das Gefühl, einer höchst außergewöhnlichen Frau begegnet zu sein: Der Eindruck ihrer Bilder wirkte in mir weiter, aber nicht nur der. Ich hatte das Gefühl, im Museum eine Art transzendenten Raum betreten zu haben – wie es in Kirchenbauten der Fall ist, in denen die Zeit aufgehoben erscheint –, in dem die Konzentration des Betrachters gerichtet und gebündelt wird auf seine eigene spirituelle Energie. Und ich war voll von Gedanken, die ich aus dem Gespräch mit der Künstlerin mitgenommen hatte. Es passiert mir nicht so häufig, dass die Begegnung mit Kunst und Künstlern derart nachdrücklich und grundsätzlich wirkt. Es mag die Achtung vor der Disziplin, Strenge und Ernsthaftigkeit sein, mit der Eugenia Gortchakova ihrer Kunst nachgeht, ihre Bildung, die Schärfe ihrer Gedanken, ihre Vitalität und ihr Humor, vielleicht vor allem das Gefühl, aus der Zerstreuung und dem Strudel gerissen worden zu sein, der – als Freiheit, Vielfalt und Mobilität getarnt – die eigene Lebenszeit und ihr schöpferisches Potential stiehlt.
Vielleicht einige wenige Hinweise zum Werdegang der Künstlerin: Nach expressionistischen Aus- und Aufbrüchen in ihrer russischen Heimat hat die gelernte Philologin und Kunsthistorikerin erst in Paris und dann seit 1992 in Oldenburg zu ihrer Bildsprache gefunden. Es bedurfte offenbar des räumlichen und zeitlichen Abstands, der Befreiung aus vertrauten Strukturen und Bindungen, dass Eugenia Gortchakova den Werkprozess etablieren und die Arbeiten schaffen konnte, die sich inzwischen zu einer unverwechselbaren Bildwelt verdichtet haben. Weit weg von Russland trat Eugenia Gortchakova mittels ihrer Bilder in einen Dialog mit den Menschen, die sie bis dahin geprägt hatten, mit vorzugsweise Schriftstellern und Philosophen, deren Denken ihr Bewusstsein bestimmt und entwickelt hat. Sie ließ die Personen, Achmatova oder Puschkin, in ihren fein gestrichelten Tafeln auftauchen, nannte sie beim Vornamen wie in einem persönlichen und intimen Gespräch unter Freunden. Aber sie öffnete ihre Bildbühne auch Politikern, die das Leben der Künstlerin umzingelt hatten. Nicht zufällig erinnern ihre Bilder an Ikonen und nicht zufällig fügen sich die Diptychen zu Ikonostasen, zu Bildwänden, wie sie in orthodoxen Sakralbauten das Allerheiligste von der Gemeinde trennen.
Eugenia Gortchakova greift die in ihrer Ursprungskultur tief verwurzelten Gattungen auf, um den Kanon, auf dem sie beruhen, umzukehren. Keine fixe Religion, Riten, soziale und politische Strukturen bestimmen Motivkreis und Form, die Künstlerin selbst versichert sich ihrer Wurzeln, ruft die Gedanken und ihre Träger herbei, füllt die Freiheit, die sich mit der Entbindung aus festen Strukturen einstellt, mit einem von ihr persönlich verpflichteten Ensemble sowie von ihr selbst fort geschriebenen Inhalten. „Sie liebte Elemente – Möglichkeit des Ganzen, Nähe zu Ordnung. Noch nicht gebaut, nicht bestätigt, nicht endgültig. Das war ihr Ort.“ So schreibt Eugenia Gortchakova selbst. Nicht häufig trifft man auf Menschen, die das in der Moderne so oft oberflächlich bejubelte Drama der Individualität derart offensiv und bewusst auf sich selbst zurück geworfen parieren. Im Werkprozess, der den Tag der Künstlerin ausfüllt, führt diese einsam ihre Dialoge und baut damit an ihrem Gedankengebäude. Jeder Strich wie ein Schriftzeichen, auch das ist gewendete russische Tradition, in der jedem kanonisierten Ikonenstrich eine gedankliche Offenbarung zugeschrieben wird. Dazu finden sich Namen, Begriffe, Sentenzen in den Bildern. Dabei geht Eugenia Gortchakova intuitiv vor, betreibt ihre Symposien und philosophischen Exerzitien nicht systematisch wie eine Wissenschaftlerin, sondern als Künstlerin, assoziativ, angetrieben vom Werkmotor, den sie in Gang gesetzt hat. Wie eine Maschine, die Warhol sein wollte, mit innerer Notwendigkeit, wie Kandinskij meint. „Disziplin ist das Geheimnis des Glücks“, formuliert die Künstlerin weiter. Sie betreibt ihre Askese nicht als Selbstgefühl, sondern im Wissen um die Potentiale, die das streng formierte Tun freisetzt. Sie „mag Gegensätze“ und „Bibliotheken“, das heißt, deren „Nähe zu Antworten“ ist an anderer Stelle zu lesen und „Du hast das Wichtigste nicht genannt: Die Dunkelheit, die du in Russland erlebt hast, war dein direkter Kontakt mit dem Nichts, mit der existentiellen Leere, in der alles versunken ist. Du hast deinen Drang verwirklicht, Zeit- und Endlosigkeit zu finden mit der sich wiederholenden Struktur, mit deiner Zeit, deinen Erinnerungen und Menschen, mit denen du die Leere immer aufs Neue füllst.“
Man könnte endlos aus den Texten Eugenia Gortchakovas zitieren. So wie sie die Zeit als Daseinsform zum Takt- und Formgeber ihres Werkes macht, begreift sie mit Heidegger die Sprache als „Haus des Seins“. „Coming home“, so ein weiterer Texttitel, heißt für sie Rückkehr an den Platz ihrer Arbeit, an die Maschine, die sie am Leben hält, heißt aber auch das Ankommen in der Sprache, die ihre Einsichten öffnet. In jüngeren Arbeiten werden Wörter ausgespart von den Strichformationen. Sie öffnen einen Tiefenraum und visualisieren Momente, die jeder von uns kennt, jene Augenblicke, in denen das subjektive Bewusstsein in einem bestimmten Satz heimisch wird, sich angekommen fühlt. Eugenia Gortchakova schildert, wie sie sich diese Momente im provinziellen Umfeld ihrer Kindheit und Jugendzeit durch Lektüre erkämpft hat, wie sich diese Augenblicke in der Studienzeit häufiger eingestellt haben und wie sie diese nun kraft ihrer künstlerischen Tätigkeit dauerhaft initiiert und wach hält.
Nun hat man sich Eugenia Gortchakova keinesfalls als leidenschaftlich der Geistigkeit und Metaphysik huldigende Eremitin in selbst verordneter Klösterlichkeit vorzustellen. Auch sind ihre Arbeiten keineswegs nur von sakraler Strenge bestimmt. Humor, Ironie und Selbstzitate aus einer mittlerweise fast zum Markenzeichen gewordenen Bildsprache dokumentieren zunehmende Gelassenheit und auch Abstand zu den Werken, mit denen die Künstlerin ganz offenbar immer näher an ihre eigene Mitte herangerückt ist. Die abgründige Wahrnehmung der eigenen Existenz als gänzlich vereinzelter scheint eher der Vergangenheit anzugehören. Vielmehr hat sich offenbar etwas anderes eingestellt: „Wenn vor Freude die Zeit still steht, die Zukunft verschwindet und mit ihr Unruhe und Sorgen. Ich habe mich auf solche Momente vorbereitet, wenn sich die Welt mir öffnet. Ich bin da.“
Der Weg zu dieser Öffnung führte über die formal eher verspielteren Collagen des Strichelns mit Fotografien von Motiven der Geburtsstadt Kirow oder prähistorischen Stätten. Dort erscheint Zeit symbolisch in naturwüchsigem Behältnis als Baumstamm oder Höhle. Auch integriert sie Foto-Negativstreifen in ihre Bilder; die wie die Strichformationen Augenblicke ebenso repräsentieren wie das Vergehen von Lebenszeit und die Vergänglichkeit von Lebenszuständen. Angekommen in der Welt heißt auch, wenn sich die intuitiv gewonnene Bildsprache in der Wirklichkeitserfahrung bestätigt. Das Erlebnis New York etwa als Ahnung dessen, was Ganzheit bedeuten kann: die Einheit der Gegensätze, das Monumentale, aber auch das Ungegriffene, Unbeherrschbare. Hier ist auch das Prinzip der Vertikalen präsent, das Eugenia Gortchakovas Arbeiten mit prägt, diese – wie wir erschreckt erfahren mussten – verletzliche Dominante in der Gestaltung der Umwelt und deren bildlicher Bewältigung.
Der künstlerische Weg Eugenia Gortchakovas rührte über eine höchst diesseitige moderne Ikone, über Marilyn Monroe, die wie kaum eine zweite das Dilemma der öffentlichen Person repräsentiert. Im Dialog mit den anderen, strukturell für ihre Arbeiten, war für Eugenia Gortchakova das Gegenüber auch immer Spiegel des eigenen Ichs. In der Figur der Hollywood-Ikone findet sie den Extremfall der Zurichtung des Ichs gemäß öffentlicher Erwartungen. So wie das Ich auf das Du angewiesen ist, kann es sich auch im anderen verlieren. In einem Bild greift die Künstlerin eine berühmte Fotografie der Monroe auf – Marilyn liest Ulysses –, in der Tat nicht das, was unser Bild von der Pin-up-Größe bestimmt. So wie Eugenia Gortchakova ihre Daseinsform und -bestimmung in einer zurückgezogen erscheinenden, in Wirklichkeit aber permanent dialogischen künstlerischen Tätigkeit gefunden hat, so sehr ist sie sich auch der Gratwanderung veröffentlichter Kunstprodukte bewusst. Zum Phänomen Monroe zitiert sie einen georgischen Philosophen: „Machst du etwas, sofort erscheint deine kulturelle Äquivalenz, gelöst von deiner Gestalt und deinem Körper, und wird zirkulieren in Kultur. Alle klugen Leute werden über dich reden, dich loben oder dich tadeln, und das alles wird keinen Zusammenhang mit dir haben. Du wirst schreien, versuchen zurück in deine eigene Gestalt zu schlüpfen und dir wird das nicht gelingen, weil deine Gestalt nicht mehr dir gehört.“ Kunst ist im besten Fall gefährlich. Sie katapultiert dich und andere gegebenenfalls vor höchst unangenehme Augen und Spiegel. Sie offenbart und liefert aus.

Rainer Beßling begins with the remembrance of the first meeting with Eugenia Gortchakova. Then he describes her exhibition in Oldenburg Town Museum in 2000. A wall was filled with pictures each consisting of two parts and there were also objects like steles, which were also occupied with the fine painted structures of the pictures. This created an atmosphere of a room in which time was stopped but a pulsation was felt.
Then Rainer Beßling describes the construction and structures of the pictures. He speaks of the polarity and the sense of the two big forms in the diptychs. The words and sentences in the pictures also show that time is the central theme. As time defines our existence it also structures the work of Eugenia Gortchakova. In the diptychs she confronted two definitions of time: in the circle the time as repetition as we see in days, years; in the lines the beginning and end of everything. Not by chance the composition of the pictures shows the cosmological circulation like a spiritual highlight and the fate in the lower part.
Eugenia Gortchakova’s works answer the question how the phenomenon of time is realized in space and surface of a picture. She has managed this by layers of strokes, which develop dynamic vibrations on a motionless surface. With each stroke the artist takes down a moment of her life - by painting she joins together these snapshots of time to an integral whole, which she permanently continues.
After describing his impression of the meeting the author gives a view at the biography of Eugenia Gortchakova. He says, with the distance to Moscow she became able to start a new process of work in progress to come to her own image. She started a dialog with people, mainly writers and philosophers, who had influenced her thinking. Her diptychs were combined in iconostases as in orthodox churches, but not because of religious feelings. She goes back to the origin, to the elements, which has determined the beginning.
Not so often one can meet persons who reflect in their own works the individuality so totally – like a machine which Warhol wanted to be, with inner necessity, as Kandinskij said.